Der Erdherr (teng-nyono), seine Pflichten und Befugnisse

 

Baandem Badomsa Chantiinsa Farinsa Longsa Napulinsa Wabilinsa Zamsa

Einige Erdherren (teng nyam) von Wiaga


R.S. Rattray (1932: 402), der über die Aktivitäten des Bulsa-Erdherrn seltsamerweise zum Teil in der Vergangenheit berichtet, formulierte dessen Aufgaben in einer etwas vagen Form so:

The Tenyono is in charge of the groves (tengwane). His duties were in connexion with crops, land and the spilling of blood.

Nach Schott (1993:76) ist es unter anderem die Aufgabe des Bulsa-teng-nyono

            ...de présenter à la Terre et aux différents sanctuaires (tanggbana) de la Terre ainsi qu’aux ancêtres (kpilima)... des offrandes.

Beiden Autoren ist grundsätzlich zuzustimmen. Die vornehmliche Aufgabe eines Erdherrn ist das Opfern an tanggbana und tengsa seines Zuständigkeitsbereichs. Er kann die Bitte eines Opferwilligen kaum abschlagen, wenn nicht wichtige rituelle Gründe dagegen sprechen. Andere Aufgaben sind eng mit seiner Funktion als Opferer und zuständiger Spezialist für alle das Erdheiligtum betreffenden Angelegenheiten verbunden. In den Antworten der 30 Erdherren Wiagas auf die Fragen nach den wichtigsten Aufgaben in ihrem Amt herrschte eine recht große Übereinstimmung.

 

1. Tätigkeiten in Verbindung mit Hexerei (sakpani): 22 Nennungen

Aus den Interviews ging hervor, dass der Erdherr keineswegs versucht, in seinem Opferbezirk Hexen selbst aufzuspüren. Vielmehr wartet er, bis ein Gehöftherr (yeri-nyono) ihm von einem Hexereiverdacht meldet. Vorher hat der Gehöftvorsteher schon eigenständig versucht, die verdächtigen Personen zu befragen und nach einem eventuellen Geständnis zu verwarnen. In einigen Fällen löst sich das Problem, indem z.B. eine eingeheiratete, nicht geständige Frau freiwillig das Gehöft verlässt oder vertrieben wird. Fast immer hat der Gehöftherr auch einen Wahrsager (baano) aufgesucht, der ihm den Verdacht bestätigte. Es gehört jedoch zu den wenigen Einschränkungen in den Fähigkeiten eines Wahrsagers oder vielmehr seines Hilfsgeistes (jadok), dass er den Namen der Hexe nicht herausfinden (oder nennen?) kann.

Sind die verdächtigten Personen nicht geständig, so bleibt als letztes Mittel das oben beschriebene Erdordal (teng-nyuka), das über Leben und Tod der Angeschuldigten entscheidet. Ein Hexenordal kann auch im Gehöft mit der in einem keramischen Noppentopf aufbewahrten Erde eines weiblichen Ahnenschreins (ma-bage, s. Kröger 1982: 22-27; 2001: 226-229) durchgeführt werden, nicht jedoch mit der Erde eines männlichen Ahnenschreins. Wenn im Mattenordal einer Totenfeier (s.u.) die Totenmatte (tiak) die am Todes des Verstorbenen schuldige Person herausfindet und diese ihre Schuld leugnet, so veranlasst man sie, mit Wasser vermischte Erde vom Grab des/der Verstorbenen zu trinken. Dieses Ordal wird vorub tengka nyuka (wörtlich: ‘Trinken von Grabschacht-Erde’) oder boosuk (‘Grab’) tengka nyuka genannt.

Die Durchführung des Trinkens von tanggbain-Erde gehört wohl neben der eigentlichen Opfertätigkeit des Erdherrn zu seinen wichtigsten Befugnissen. Die Informationen der Erdherren über dieses Ordal stimmen weitgehend überein. Einige schildern Einzelheiten, deren Vorkommen nicht bei den anderen nachgeprüft werden konnte. Der teng-nyono von Guuta-Tampienta sagte z.B. aus, dass sein tanggbain erst dann ein Erdtrinken erlaubt, wenn die Hexe bereits eine menschliche Seele [z.B. in einem hohlen Baum] gefangen hält [um sie später zu verzehren]. Andere betonen, dass vorher wenigstens eine Verwarnung an die verdächtigte Person ausgesprochen werden sollte.

Tauxier (1912: 292) erwähnt in einem Kapitel über die Bouras (Kasena-Name für die Bulsa) das Ritual des Erdtrinkens für das nicht identifizierte Dorf Savélou. Der gleiche Autor berichtet über Bationsé (Bachonsa), im Nordwesten des Bulsagebietes gelegen, dass der Erdherr hier nach einem Todesfall, der vermutlich durch Zauberei (Hexerei) verursacht wurde, auch bei dem im ganzen Bulsaland ausgeübten Mattenordal eine Rolle spielt (S. 291):

Pour les affaires de sorcellerie, a Bationsé, quand un jeune homme ou une jeune femme mouraient inopinément, on soupçonnait un sorcier. Alors le chef de la Terre faisait couper les cheveux du mort et envoyait chercher un branche de sounsoun dans le bois sacré. On mettait cheveux et branche dans une vieille natte qu’on attachait avec de la ficelle, puis deux filles vierges du village la mettaient sur leur tête. La natte et la branche qu’elle contenait dirigeaient les filles et allaient toucher deux hommes dans la foule (le village était rassemblé). Alors les deux hommes prenaient la natte, la mettaient à leur tour sur leur tête et commençaient à se promener avec, en se laissant diriger par celle-ci. La branche allait frapper le sorcier.

 

2. Schlichtung und Sanktionen bei einem Streit (19 Nennungen)

Allgemein besteht die Ansicht, dass die Erdheiligtümer gewalttätige, vor allem blutige Auseinandersetzungen auf ihrem Land „hassen” (kisi). Aus diesem Grunde ist der Erdherr verpflichtet, tätliche Auseinandersetzungen zu schlichten und die vom teng / tanggbain geforderten Maßnahmen durchzuführen. Auch bei rein verbalen Auseinandersetzungen, die noch kein Vergehen gegen die Erdheiligtümer darstellen, schreitet der Erdherr gelegentlich ein, vielleicht um Schlimmeres zu verhüten.

Wird ein Erdherr von zwei streitenden Parteien als Schlichter angerufen, ohne dass es zu Gewalttätigkeiten gekommen ist, so ist es für einen Außenstehenden schwer herauszufinden, ob er diese Tätigkeiten in seiner Eigenschaft als Erdherr oder als erfahrene Autoritätsperson ausführt. In den 90er Jahren entstand in Badomsa ein schwerer Konflikt zwischen einer nur durch eine Frau mit Badomsa verwandten Familie (attached lineage) und einer bejahrten Tochter des zu Badomsa gehörenden Gehöftgründers, in dessen Haus die „fremde” Familie lebte. Beide Parteien wählten den Erdherrn Anamogsi als Streitschlichter und Vermittler, der daraufhin viele Jahre lang für einen Ausgleich sorgte. Auf eine direkte Befragung hin antwortete mir Anamogsi, dass er sein Schlichtungsbemühungen in seiner Rolle als Nachbar und nicht als Erdherr ausübe. Die beiden Parteien hätten sich auch einen anderen Schlichter aussuchen können.

Mehrere Erdherren berichten, dass sie bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zunächst versuchen, die Kontrahenten verbal zu beruhigen oder sie durch lautstarke Aufforderungen und Drohungen zum Ende ihres Kampfes zu bewegen. Erst bei einer Weigerung treten Sanktionen ein. Einige Erdherren verbannen in einem solchen Fall die Streitenden aus der eigenen Sektion (Inf. aus Badomsa, Farinsa, Longsa-Ayaaloabisa, Wabilinsa-Awennoai- Yeri). Verlassen sie hiernach nicht ihren Wohnsitz, wird das tanggbain sie töten.

Auch Rattray (1932: 402f.) spricht dem Bulsa Erdherrn das Recht zur Verbannung zu, erwähnt jedoch für den Fall einer Weigerung noch eine weitere Sanktion, die mir selbst nicht durch ein Beispiel bekannt ist, Anamogsi jedoch für frühere Zeiten bestätigt:

... the Tenyono would place a tengwan bogolo [in meiner Schreibung tanggbain bogluk, d.h. ‘Erdschrein’, F.K.] ... on the land. ‘If the man were to continue farming there, he would die.’

Diese Aussage deckt sich zum Teil mit einer Information, die Schott in Sandema erhielt (1981: 187):

...the teng-nyono tried to stop quarrels between compounds or clan-sections over the use of land by putting a green branch on the disputed piece of land, thereby „confiscating” it and prohibiting both parties from using it.

In Wiaga konnte ich hierfür (noch) keine Bestätigung finden. Einigkeit besteht wohl im Bulsaland darüber, dass der Schuldige dem tanggbain ein vierbeiniges Haustier (dung, d.h. Ziege, Schaf oder Rind) opfern und sich außerdem vor diesem Opfer mit seinem Kontrahenten versöhnen muss.

Eine Verschärfung der Situation tritt für den Fall ein, dass bei dem Streit Blut geflossen ist, denn hierdurch ist das „Land verdorben worden” (kaasi tengka). Nach Angaben einiger Erdherren ist es hierbei egal, ob das Blut den Boden berührt hat oder nicht, andere (Zuedema, Yisobsa-Chandonsa-Amaawenbisa) berichten, dass nur durch einen direkten Blutkontakt die Erde „verdorben” wird. In Wiaga hat eine Benetzung des Bodens mit menschlichem Blut ohne einen vorausgehenden Streit (z.B. bei einer Eigenverletzung) keine rituellen Folgen, gelegentlich hört man jedoch, dass eine solche Benetzung in anderen Sektionen (bei einigen Süd-Bulsa?) tabuiert wird.

In der Befragung nach ihrem Verhalten bei gewalttätigen, blutigen Streitigkeiten betonen einige Erdherren ausdrücklich, dass sie in einem solchen Fall auch den (sub-) chief und/oder die Polizei benachrichtigen. Wenn ein Streitender nicht zur eigenen Sektion gehört, ist eine Verbannung ohnehin nicht möglich und auch das Erdheiligtum hat dann wohl nur eine eingeschränkte Macht. Ein Einschalten staatlicher Institutionen wird hier als notwendig erachtet.

 

3. Aktivitäten bei Trockenheit und Schädlingsplagen (18 Nennungen)

Wie bei anderen westafrikanischen Ethnien (s. Zwernemann 1968: 113f.) schließt der Funktionsbereich des Bulsa-Erdherrn den Einfluss auf das Wettergeschehen, das ja auch für die Fruchtbarkeit der Erde relevant ist, mit ein. Bleiben nach der Einsaat der Hirse (Ende April, Anfang Mai) weitere Regenschauer aus, so bedrängen die Gehöftherren einer Sektion den Erdherren, für Regen zu sorgen (s. auch Schott 1970: 18). Oft opfert der teng-nyono seinem tanggbain in einer solchen Situation in Anwesenheit aller kpaga (elders) nur ein bis zwei Hühner und eine Kalebassenschale trockenen Hirsemehls. Er sagt dem tanggbain, dass es an Wasser mangele und es selbst für das notwendige Regenwasser zum Anrühren des Hirsemehls sorgen könne. Auch ein vierbeiniges Haustier (dung) wird fast nie während der anhaltenden Dürre geopfert, sondern nur für den Fall reichlicher Niederschläge versprochen.

Im Jahre 2000 wurde das Bulsaland, ebenso wie andere Teile Nordghanas, von einer Raupenplage heimgesucht. Viele Bulsa glaubten, dass bösartige Menschen die Plage der „army worms”, wie sie die Raupen nannten, verursacht hätten, und sie bedrängten die Erdherren, für Abhilfe zu sorgen. Einsetzende starke Regenschauer töteten endlich den Großteil der Raupen, wofür mehrere Erdherren im Gespräch mit mir ihr eigenes tanggbain verantwortlich machten.

 

4. Genehmigungen zur Leichenbestattung und zur Abhaltung von Totenfeiern (15 Nennungen)

Eine solche Erlaubnis kann ein Erdherr nur dann verweigern, wenn der Tote eine ungesühnte Schuld gegenüber dem Erdheiligtum, z.B. durch Hexerei, Schadenzauber, Missachtung eines strengen Tabus usw. auf sich geladen hat. In einem solchen Fall müssen die Angehörigen des Toten sofort ein Opferversprechen ablegen, andernfalls wird das tanggbain die ganze Verwandtschaftsgruppe töten.

In einigen Fällen wird ein rituelles Vergehen schon allein durch die Todesumstände offenkundig. Ein plötzlicher Tod ohne vorhergehende Krankheit oder ein Tod, der nicht im Kreis der engeren Verwandten eintritt, ein Tod durch Blitzschlag, Lepra, Selbstmord oder als Folge eines Fluchs gilt als ‘böser Tod’ (kum biok). Ein Wahrsager findet in einem solchen Fall heraus, ob ein Vergehen des Verstorbenen gegen die Ahnen oder gegen ein teng vorliegt. Bei vielleicht allen Bulsa wäre es ein Vergehen gegen die Erde, eine schwangere Frau zu begraben, bevor der Embryo nicht entfernt und getrennt von der Frau begraben worden ist.

Die jeweilige Einholung der Erlaubnis zur Abhaltung der beiden Totenfeiern (kumsa und juka) hat den Zweck, erneut zu überprüfen, ob der Tote oder seine Angehörigen noch eine Ritualschuld zu begleichen haben, vor allem aber auch, den Schutz des tanggbain für die Durchführung der Feier zu garantieren (Inf. Badomsa).

 

5. Entgegennahme streunender Tiere (6 Nennungen)

Werden von Gehöftbewohnern streunende Haustiere gefunden, so versucht man zunächst, die Besitzer in der näheren Nachbarschaft ausfindig zu machen. Dann übergibt man sie dem Erdherrn, der nach einigen Informationen sie sofort dem tanggbain opfert, nach anderer Auskunft eine Wartezeit einlegt, um dem früheren Eigentümer noch eine Chance der Rückholung einzuräumen.

Nach Rattray (1932: 402) werden bei den Bulsa alle Fundgegenstände auf dem Land nach einer gewissen Zeit Eigentum des Erdherrn. Eine ausbleibende Ablieferung hatte - besonders für Eisengegenstände - für den Finder den Tod zur Folge. Diese Aussage wird für frühere Zeiten bestätigt (Badomsa, Farinsa), heute hat ein Erdherr jedoch wohl nur noch Anspruch auf streunende Opfertiere. Zugelaufene Enten, Gänse oder Katzen darf der Finder behalten, wenn sich der Eigentümer nicht sofort ermitteln lässt.

 

6. Funktion des Erdherrn bei Neusiedlungen

Keineswegs kann der Bulsa-Erdherr frei über das Land seines Ritualbezirks verfügen, da, wie gesagt, nicht ihm, sondern bestimmten Ahnen das Land gehört. Will jedoch ein Sektionsfremder in dem Ritualbezirk eines Erdherrn Ackerland bebauen oder hier seinen festen Wohnsitz einnehmen, um später sogar sein eigenes Gehöft zu gründen, so bedarf es stets einer Genehmigung des Erdherrn, die er jedoch ohne schwerwiegende rituelle Gründe kaum verweigern kann. Das Gleiche gilt für den Fall, dass ein Bauer sein eigenes Gehöft auf dem Land eines anderen Lineage-Segments innerhalb der eigenen Klansektion gründen will.

Ein Kaufvertrag in Wiaga

In neuerer Zeit sind hier tiefgreifende Änderungen eingetreten, wie si an dem Bauvorhaben meines damaligen Assistenten Danlardy Amoak dargestellt werden sollen. Als Lehrer wollte er im Zentrum von Wiaga eine eigene Wohnstätte besitzen, in der er ohne störenden Lärm Arbeiten für seine Schule verrichten konnte. Das vorgesehene Grundstück gehörte Ayieteba aus Dogbilinsa, oder richtiger gesagt, einem bestimmten seiner Ahnen. Vor der Übertragung des Landes musste Danlardy dreimal das Gehöft dieses Besitzers in Dogbilinsa besuchen. Jedesmal brachte er Kolanüsse und 7 Flaschen Alkohol mit. Danach begann er mit dem Bau seines geplanten Hauses. Anschließend wurde die Landübertragung durch eine vom Wiaga-Häuptling ausgestellte Urkunde rechtskräftig. Hier wurde bestätigt, dass nun Danlardy, genauer gesagt sein junge Tochter, auf deren Namen er die Eintragung vorgenommen hatte, rechtmäßiger Eigentümer (legal owner) des Grundstückes ist. Auch mündlich bestätigte mir Danlardy, dass auch in Zukunft niemand das Land von ihm oder seinen Nachkommen zurückfordern kann. Nach Fertigstellung des Baus wird er zwei Hühner, Kolanüsse, Tabak, ein neues Hackenblatt und eine Gallone Palmbranntwein den Landbesitzern überbringen. Einen Erdherrn hat er nie besucht. Wohl hatte der alte Besitzer seinen Erdherrn aufgesucht, ohne dass ich Näheres über diesen Besuch erfahren habe.


7. Andere Funktionen eines Erdherrn, wie sie z.B. nach Zwernemann (1968: 105-122 „Voltagebiet”) in einigen westafrikanischen Ethnien diesem Amtsträger zustehen, werden von dem teng-nyam (Pl.) in Wiaga zumindest heutzutage nicht mehr ausgeübt. Er gibt weder den Zeitpunkt der ersten Hirseeinsaat oder den Beginn der Ernte an, noch muss er für einen solchen Einsatz informiert werden. Eine Information vor dem geplanten Ausschachten eines neuen Brunnens verlangt nach meinen Erkundigungen in Wiaga nur der Erdherr von Napulinsa.

 

Fortsetzung: Der Marktherr (yaba nyono)